Und was (verflixt) ist ein System?
Ein schwadronierender Rückblick in systemische Explorationskontexte
Lesezeit: ca. 4′ 00″
Hintergrund und Kontext
Wir befinden uns ungefähr im Jahre 1994, im Fachbereich Produktdesign in Kassel. Hier war die Welt des Designs nicht nur ein Beruf, sondern eine Leidenschaft, die tief in die Gestaltung von Dingen und Prozessen eintauchte. Doch diese Leidenschaft brachte auch Fragen mit sich: Warum sollten Dinge überhaupt gestaltet werden? War es wegen Geld, Weltrettung, Ästhetik oder Gesellschaftsformung? Die Antworten blieben oft vage und unbefriedigend.

Probleme und Herausforderungen im Design
In dieser Zeit fehlte ein übergeordnetes Orientierungssystem. Während junge Designer ihre Erfahrungen teilten, mangelte es an einer klaren Positionierung. Designer wurden als Manipulatoren und Wertegestalter gesehen, doch der Weg zur Wertschöpfung blieb unklar. Eine Vorlesungsreihe "Design zwischen Beliebigkeit und Werten" in den frühen 90er Jahren heizte die Diskussionen weiter an, ohne klare Antworten zu liefern.
Designer in Ausbildung wurden oft als Spiegelbilder voneinander wahrgenommen, ohne tiefgreifende Unterschiede. Ein wirtschaftliches Überlebenssystem wurde nicht vermittelt. Das Design war in sich geschlossen und blickte selten über den disziplinären Tellerrand hinaus. Die fehlende Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit führte zu einem Kreislauf ohne Lernkurve. Der Nach-Ulmer-Gestaltungs-Dinosaurier hielt an der Überzeugung fest, dass externe Orientierung unnötig sei, da die Qualität in Kassel bereits vorhanden sei.
Einflüsse
Helmut Krauch erkannte bereits in den 60er und 70er Jahren die Zeichen der Informationsgesellschaft. Seine innovative Sichtweise wurde jedoch oft missverstanden und marginalisiert. Krauch war ein Pionier der Interdisziplinarität und forderte Designer auf, über ihre eigenen Grenzen hinauszuschauen. Seine Ideen wurden jedoch in den 70ern als zu früh empfunden und fanden erst viel später Gehör.
Das Bedürfnis, sich interdisziplinär auszutauschen, kam erst Ende der 80er Jahre in Deutschland mehr und mehr auf. Krauchs Ansatz, Interdisziplinarität und die Öffnung für andere Disziplinen zu fördern, stieß auf Widerstand. Dennoch etablierte er diese Ideen im Fachbereich Produktdesign in Kassel.
Die Frage "Was ist ein System?" beschäftigte viele Studierende, darunter auch Oliver Gerstheimer. Diese Frage führte ihn zu Helmut Krauch, der ihm keine direkten Antworten gab, sondern ihn dazu brachte, seine eigenen Fragen zu stellen. Krauch betonte, dass Design nicht alles sei und forderte Gerstheimer auf, über den Tellerrand zu blicken und sich mit anderen Disziplinen auseinanderzusetzen.
Diese Begegnung führte Gerstheimer zu einem interdisziplinären Ergänzungsstudium, wo er von verschiedenen Professoren lernte, wie man Systeme denkt und anwendet. Er lernte, dass Systeme überall sind und alles durchdringen. Diese Erkenntnis veränderte seine Sicht auf das Design radikal.
Systemische Analyse und methodisches Vorgehen
Durch die Auseinandersetzung mit Krauchs Arbeiten und die Erbschaft seiner Publikationen tauchte Gerstheimer tief in die Welt der systemischen Analyse ein. Er erkannte, dass das Schreiben von Publikationen selbst ein System ist und lernte von Krauchs methodischem Vorgehen. Krauchs Arbeiten zeigten ihm die Bedeutung der kontinuierlichen und disziplinierten Forschung und wie wichtig es ist, interdisziplinär zu denken und zu arbeiten.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Krauchs Texte und Methoden inspirierten Gerstheimer, über die klassische Designwelt hinauszudenken und sich mit den Bedürfnissen und Verhaltensmustern verschiedener Zielgruppen auseinanderzusetzen. Er sah Design nicht mehr als isolierte Disziplin, sondern als Teil eines größeren Systems, das interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert.
Helmut Krauch war für Gerstheimer ein Lehrer, der ihm die Welt außerhalb des Designs zeigte und ihn dazu brachte, Systeme zu verstehen und anzuwenden. Krauchs Einfluss führte dazu, dass Gerstheimer heute als Systemdenker arbeitet und seine Fähigkeiten nutzt, um Unternehmen bei der Entwicklung von Zukunftsprodukten zu beraten.
Langfristiger Einfluss und Lehren
Durch die Lektüre von Krauchs Schriften und die Beobachtung seines methodischen Vorgehens lernte Gerstheimer, wie wichtig es ist, systematisch zu denken und zu handeln. Er erkannte, dass alles, von der Produktentwicklung bis zur Planung von Regierungssystemen, als System betrachtet werden kann. Diese Erkenntnis prägte sein weiteres Studium und seine berufliche Laufbahn.
Krauchs Ansatz, interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern und über die eigenen Disziplingrenzen hinauszuschauen, bleibt für Gerstheimer eine der wichtigsten Lektionen. Heute setzt er diese Erkenntnisse in seiner Arbeit um und sieht sich als Evangelist der Systemwissenschaft. Krauchs Methoden und Ansätze sind für ihn auch heute noch von großer Bedeutung und inspirieren ihn, weiterhin neugierig zu bleiben und systemisch zu denken.
Die Begegnung mit Helmut Krauch und seine Lehren haben Gerstheimers Sicht auf das Design und seine Rolle in der Welt grundlegend verändert. Er sieht sich nicht mehr nur als Designer, sondern als Systemdenker, der in der Lage ist, komplexe Probleme zu lösen und interdisziplinär zu arbeiten. Krauchs Einfluss auf sein Leben und seine Arbeit ist unbestreitbar und wird ihn auch in Zukunft begleiten.

Festschrift für Helmut Krauch
2007
Oliver Gerstheimer